Mauern fallen

Ich gebe zu, das Thema ist recht ausgelutscht. Und ich weiß, dass ich persönlich mit dem 09. November 1989 nicht viel zu tun habe (Schließlich war das ja mehr als fünf Jahre vor meiner Geburt). Aber dieses eine Mal, zum 25. Jahrestag, hoffe ich, dass einige unverbundene Gedanken erlaubt sind.

Zunächst ist da natürlich das Ereignis selbst: Nach 28 Jahren des Einmauerns wird die innerdeutsche Grenze geöffnet. Die Einwohner zweier Länder, die auf entgegengesetzten Seiten eines Konflikts stehen und doch eigentlich irgendwie zueinander gehören, werden von einer Grenze befreit, die sie jahrelang voneinander getrennt hat. Häufig bekommt man den Eindruck, es handele sich dabei um ein Einzelereignis, das sozusagen aus einer Laune des Schicksals heraus den Menschen geschenkt worden ist und das Ende des Kalten Krieges besiegelt hat. Was dabei unterschlagen wird, sind die vielen kleinen Schritte, die vorher gegangen werden mussten (ob in Leipzig oder in Ungarn und vor allem im Bewusstsein der Menschen) und auch heute noch gegangen werden müssen, um ein wirkliches Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten und vor allem auch Europas zu ermöglichen. Der Mauerfall war nicht etwas, was einfach so geschenkt worden ist. Er ist verdient worden von denen, die daran geglaubt haben, dass ein friedliches Ende der Trennung möglich ist, und so ein paranoides Spitzelsystem in die Knie gezwungen haben.

Umgekehrt ist der 9.11. auch ein Symbol für das, was Menschen einander antun können. Unschuldige Menschen werden verprügelt, ermordet, Geschäfte und Wohnhäuser verwüstet, zerstört und geplündert. Sie werden ihrer Kultur und ihrer Würde beraubt und schließlich in den Jahren nach dem 9.11.1938 zu Tausenden verschleppt, eingesperrt und ermordet. Der 9.11.1938 ist ein vorläufiger Höhepunkt der menschenverachtenden NSDAP-Diktatur und doch nur der Auftakt zu den erbarmungslosen Vernichtungskriegen, die man heute als Holocaust und zweiten Weltkrieg kennt. Und auch dieser 9.11.1938 ist kein Ereignis, das einfach so passiert ist. Schon vorher haben viele kleine Schritte dazu beigetragen, dass die NSDAP immer mächtiger wurde, schließlich an die Macht kam und ihr System von vielen Menschen unterstützt wurde. Auch in der Folgezeit sorgten viele kleine Rädchen dafür, dass das Vernichtungssystem funktionierte. Auch das war nicht etwas, was plötzlich als Strafe über die Menschheit kam, sondern etwas, was sie sich gegenseitig in blindem Hass oder aus Gleichgültigkeit antaten.

In diesem 9.11. spiegelt sich also sowohl das, was Menschen auszeichnet, nämlich das Träumen, das Hoffen, das Arbeiten für eine bessere Welt, als auch das, was Menschen zerstört, nämlich blinder Hass, Vorurteile und Gleichgültigkeit, die Mauern im Kopf.

Als Zweites ist der Mauerfall ein Symbol für das Zusammenwachsen Deutschlands und Europas, eine Art Gründungsmythos der Bundesrepublik nach 1990.

Aber wie sehr ist Deutschland überhaupt zusammengewachsen? Immer wieder werden die Kosten und der wirtschaftliche Nutzen der Wiedervereinigung gegengerechnet, Studie um Studie soll belegen, dass die „Wessis“ die Nase voll vom „Soli“ haben und die „Ossis“ immer noch wirtschaftlich abgehängt abseits der gesamtdeutschen Wahrnehmung leben. Doch ist es wirklich so einfach? Die Wiedervereinigung existiert vor allem auf dem Papier und politisch? Wohl kaum. Natürlich gibt es Vorurteile auf beiden Seiten, die auch gerne gepflegt werden. Da gibt es den „Ossi“, der sächsisch redet, von der „guten alten“ DDR träumt und einfach nicht im 21. Jahrhundert ankommen will (gepflegt als westdeutsches Klischee) und den „Wessi“, der für seine Karriere über Leichen geht, alles besser weiß und sowieso viel zu überheblich ist (womit ich hoffentlich das Klischee getroffen habe). Aber eigentlich sind wir doch schon viel weiter. Man ist nicht mehr „Ostdeutsch“ oder „Westdeutsch“, sondern identifiziert sich vor Allem, wenn überhaupt, mit seinem sozialen Umfeld. Vielleicht bin ich als „Westdeutscher“, dessen Eltern beide in der DDR aufgewachsen sind und dessen nähere Verwandtschaft immer noch „drüben“ (naja, nicht sonderlich weit) lebt, vorbelastet, aber Rollenklischees gibt es doch eigentlich wirklich nur noch im Unterhaltungsbereich. Die Mauer im Kopf – sie existiert noch, aber nur am Stammtisch oder als Witzaufhänger.

Der Mauerfall ist für mich auch Symbol für eine Art Generationenkonflikt. Die friedliche Revolution, die Errungenschaft der Generation vor mir. Und was habe ich entgegenzusetzen? Abi, Studieren, Reisen? Ja, mitnehmen, das können wir. Und immer daran denken, dass wir das ja der Generation vor uns (und anderen) zu verdanken haben. Wogegen sollte man da rebellieren? Gegen eine Generation, die vieles richtig gemacht hat? Und vor allem, gegen eine Generation, die gerade den Protest fordert (auch wenn sie ihn nicht gern hat). Es ist sehr schwer, einen wirklich eigenen Weg zu finden. Jeder Schritt in eine Richtung kann das Ende für zahlreiche andere Möglichkeiten sein. Jeder Schritt zum eigenen Ziel (so es denn überhaupt existiert) kann möglicherweise die Pläne eines anderen durchkreuzen. Auch diese Widersprüchlichkeit zwischen den eigenen Wünschen und dem, was nötig ist, baut eine Mauer im Kopf, die wirkliche Aktion blockiert. Aber vorher denken ist doch vernünftig. Ist das dann eine Mauer aus Vernunft? Gibt es das? Vielleicht sind Mauern ja gar nicht das wirkliche Hindernis. Vielleicht ist die wirkliche Grenze keine Linie auf einer Karte. Vielleicht ist die wirkliche Grenze tatsächlich nur die eine einzige Mauer, nämlich die Mauer in den Köpfen der Menschen.

Und schließlich ist der Mauerfall auch eine Verheißung für die Zukunft.

Gerade jetzt, wo sich die Fronten in Europa und im nahen Osten verhärten, wo wieder Mauern in den Köpfen gezogen werden, gerade jetzt, wenn sich lange Zeit niemand um die Ebola-Epidemie in Afrika gekümmert hat und plötzlich Panik herrscht, wenn sich eine Person hier angesteckt hat, gerade jetzt, wo Europa sich einmauert und seine Grenzzäune verstärkt, gerade jetzt ist es nötig, sich daran zu erinnern, wie Mauern fallen. Sie fallen von heute auf morgen, doch sie fallen nicht von allein. Zuerst muss die Mauer im Kopf fallen. Das ist die Barriere, die uns davon abhält, aufeinander zuzugehen, mutig zu sein. Die Mauer im Kopf fällt, wenn man aufhört, Menschen zu bewerten. Sie fällt dann, wenn man es schafft, seine Vorurteile zu überwinden. Sie fällt, wenn man seinen eigenen Stolz besiegt.

Insofern ist auch der letzte Bahnstreik ein schönes Symbol: Gerade noch rechtzeitig wird der Streik beendet und die Bahn kann an dem Tag, an dem die Aufhebung der Trennung gefeiert wird, das tun, was sie soll: Menschen verbinden.

Vielleicht fallen Mauern

Der Maddemaddigger